Meine erste Reise allein, 10 Tage von zu Hause weg, 1954
Vorbereitungs-Training
Wir schreiben das Jahr 1954 und ich starte meine KV-Lehre in Winterthur in einer Handelsfirma für Baumwoll-Import und Export. Eine gute Gelegenheit, am „Duft der grossen weiten Welt“ zu schnuppern und meiner Sehnsucht nach fernen Ländern weiter Nahrung zu verschaffen.
Als Training für die beabsichtigte Velotour im Spätsommer pedale ich bei Beginn der wärmeren Jahreszeit von meinem Wohnort Eschenz am Untersee täglich zur Arbeit nach Winterthur und zurück. Auch die damals vorgeschriebene Mittagszeit von 2 Std. benütze ich für eine Tour in der Umgebung. Ich erkundige mich bei Onkeln und Tanten nach „billigen“ Unterkunftsmöglichkeiten und werde Mitglied der Schweiz. Jugendherbergen für günstige Unterkunft an Orten ohne Verwandten-Absteige. Mit den eingeholten Einladungen stelle ich meinen Etappenplan zusammen.
Meine Ausrüstung
ist das „elegante“, rote Tourenvelo mit nur 3 Gängen meines Bruders Romuald: „englischer Lenker“, einem Kettenkasten, am Gepäckträger 2 vollgepackte Satteltaschen mit 15 kg. Darin u.a. Schlafsack, Wäsche, Toilettenartikel, Verbandszeug, Veloflickzeug, einen kleinen Kocher für Suppen unterwegs etc.
Ich habe während der ganzen Rundfahrt ein ausführliches Tagebuch geschrieben, aus dem ich die wichtigsten Szenen und Vorfälle nachstehend beschreibe. Ohne dieses Tagebuch wäre diese detaillierte Schilderung unmöglich gewesen.
„Das Rennen“
Die 1. Monster-Etappe von Eschenz nach Agiez s/Orbe
Ich fahre am 30. August schon um 3 Uhr mitten in der Nacht bei dichtem Nebel los. Auf der Fahrt durchs Mittelland werde ich immer wieder vom Regen überrascht, aber die Sonne lässt die Kleider bald wieder trocknen. Am Abend, nach 14 1/2 Std. Fahrt über 256 km bin ich bei meinem ehemaligen Schulkameraden Mutz. Er macht einen Arbeitseinsatz auf einem Bauernhof.
Ausflug nach Genf
Mutz muss früh zur Arbeit, sodass ich den Tag benütze für einen Ausflug nach Genf. Die Stadt fasziniert mich: die Lage am See, die grossen Boulevards, die Altstadt, die Parkanlagen und den grossen Springbrunnen, den „Jets d’eau“.
Vom Genfersee nach Meiringen
Dann will ich weiterfahren. Wieder frühe Abfahrt in Agiez und über Lausanne und den Gestaden des Genfersees entlang erreiche ich Vevey. Eine herrliche Fahrt: Links erheben sich die Rebberge, rechts der tiefblaue See und in der Ferne erkennt man die Schneeberge – ein Traum, inmitten einer solchen Landschaft zu pedalen. Nach Châtel-St-Denis folgt bald der Jaunpass, wobei mir der happige Aufstieg auf schlechter Naturstrasse mit meinem 3-Gänger arg zu schaffen macht. Auf der Abfahrt gerate ich ein paar Mal arg ins Schleudern, jedoch ohne Sturz. Ich bin froh, nach 202 km und 13 1/2 Std. Fahrt in der Jugi in Meiringen mich für die Nacht ausruhen zu können.
Die „Königsetappe“ über Susten und Gotthard ins Tessin
Ich bin mittlerweile gut „eingefahren“ und spüre auch „gute Beine zu haben“, wie die Rennfahrer in ihrem Jargon zu sagen pflegen. Unterwegs habe ich einen “Platten” und muss flicken. Ich schaffe es ohne abzusteigen bis auf die Susten-Passhöhe und freue mich auf meine erste Alpenetappe-Abfahrt, die mich in höllischem Tempo nach Wassen bringt. Hier ist die Herrlichkeit zu Ende und der nächste „Leidensweg“ Richtung Göschenen und Schöllenen beginnt gnadenlos.
Bei einem Drinkhalt am Dorfbrunnen von Hospental komme ich mit Walti, einem jungen Burschen aus Horgen mit seinem Rennvelo ins Gespräch. Er ist auf dem Weg nach Locarno zu einem Velorennen. Ich lasse ihn aber ziehen und gehe die ersten paar hundert Meter noch zu Fuss. Dann packt mich aber der Ehrgeiz, steige auf und fahre die restlichen 8 km zur Passhöhe auf 2108 m.ü.M. Oben angekommen, kommt er mir schon entgegen und wir beschliessen, zusammen weiterzufahren.
Ueber die Serpentinen der Tremola sind wir schnell in Airolo und kurz nach Ambri-Piotta ereilt mich wieder die Defekthexe, was einen weiteren Boxenstopp erfordert. Während der Fahrt durch die Leventina geniesse ich die kraftschonende Fahrt im Windschatten von Walti bis nach Biasca, wo wir in der Jugi übernachten. Ich selber wäre gerne noch bis Locarno weitergefahren, aber wir verstehen uns gut und so entschliesse ich mich, mit ihm in Biasca zu bleiben.
Locarno – halber Ruhetag
Gemeinsam fahren wir am nächsten Morgen über Bellinzona nach Locarno und beziehen Quartier in der Jugi in Minusio. Ein erfrischendes Bad im See darf nicht fehlen und am späteren Nachmittag fahren wir noch nach Madonna del Sasso hinauf. Walti macht von mir noch ein Foto auf seinem Rennvelo.
Das erste Mal auf einem Rennvelo sitzend – was für ein Supergefühl, das andere Träume in mir weckt. Der Wechsel zurück auf mein Tourenvelo reisst mich aber wieder aus meinen Träumen und in die Realität zurück.
Über den San Bernardino auf Naturstrassen nach Chur
Ich wünsche Walti am nächsten Morgen viel Glück und Erfolg beim Velorennen und mein Ziel für diesen Tag ist Chur.
Das Auf und Ab bis Bellinzona schaffe ich locker und lässt mich gut einfahren für den schweren San Bernardino-Pass. Zwischen Mesocco und San Bernardino Dorf gilt es bereits, unzählige Kehren zu bewältigen, die ich teilweise im und teils aus dem Sattel meistere. Der Aufstieg ist steil und auf der Naturstrasse staubig und heiss, was mir sehr zu schaffen macht. Ich steige unentwegt weiter, Kurve um Kurve höher, vorbei an Wasserfällen, Alpweiden und Ausflüglern.
Ich sehe weiter unten einen Lastwagen hochfahren. Da kommt mir ein Gedanke: Sofort steige ich ab und mache mich zum Autostoppen bereit. Neben dem Velo stehend und einen müden Eindruck vortäuschend, halte ich die Hand zum bekannten „Autostopp-Zeichen“ auf. Zu meiner Freude hält er an und ich kann auf die freie Ladebrücke steigen, aber die Fahrt dauert nur 15 Min. bis San Bernardino Dorf. Dank der kurzen Ruhepause schaffe ich aber die letzten 7 km des insgesamt 50 km langen Aufstiegs bis zur Passhöhe auf 2065m.ü.M. relativ locker.
Ich freue mich nach dieser Parforce-Leistung auf eine zügige Abfahrt, aber weit gefehlt: die nächsten 4 km auf einem der schlechtesten Strassenabschnitt meiner bisherigen Tour sind der Horror, eine Kurve nach der andern im ständigen Zickzack und eine hartnäckige Bise dringt durch Mark und Bein, sodass ich, in einem flacheren Teilstück angekommen, vom Rad steigen muss. Ich bin völlig erschöpft vom dauernden Bremsen und dem stetigen Schütteln von der holprigen Strasse und habe fast kein Gefühl mehr in den Beinen und Händen. Nachdem Leben wieder in meine Glieder zurückgekehrt ist, gehts in sausender Fahrt, immer noch auf Naturstrassen, über Splügen, Andeer und Thusis bis Cazis.
Hier schalte ich einen kurzen Halt bei meinen Studienfreund Georges ein, mache mich erst nach 19.00 Uhr wieder auf den Weg, erreiche Chur nach forschem Tempo schon nach einer halben Stunde. Müde und erschöpft klopfe ich bei meinem Götti und Tante Berta an die Tür und werde freudig willkommen geheissen.
Ruhetag in Chur
„Sechs Tage sollst du arbeiten und am siebten Tage ruhen“ – heisst es doch so schön in der Bibel. Also lege ich einen Ruhetag ein, zumal an diesem Tag noch ein Musikfest stattfindet.
Von Chur über den Klausenpass bis Luzern als Zusatzschlaufe
Ich fühle mich ausgeruht für eine weitere „Monster-Etappe“. Die erste „Hürde“ ist der Kerenzerberg am Walensee und nach der Abfahrt stellt sich mir in Näfels die Frage: Nach Norden (nach Hause als ursprünglicher Plan) oder nach Süden?
Ich fühle mich weiterhin fit und in einer totalen Euphorie, finde es zu früh für den Heimweg und entscheide mich, einen weiteren Pass – den Klausen – anzuhängen. Erst spät realisiere ich, dass die Strasse während den nächsten 71 km ständig steigt, will aber „das Ding“ durchziehen. Der nahrhafte 27 km lange Aufstieg von Linthal bis zur Passhöhe auf 1948 m.ü.M. wird durch ein heftiges Gewitter unfreiwillig unterbrochen. Ich mache für 2 km nochmals Autostopp und bin froh, näher bei der Passhöhe zu sein. Nach dem Urnerboden ist „fertig lustig“, d.h. wieder auf einer schlechten Naturstrasse weiterfahren. Den letzten Km bis zur Passhöhe hänge ich mich – zwar etwas riskant – an einem Lastwagen an und bin froh, heil oben anzukommen.
Fürchterlicher Sturz in der Abfahrt
Nach ein paar Kehren auf der Abfahrt folgt ein längeres gerades Stück und ich lasse es „fliegen“, doch plötzlich gerate ich auf der Naturstrasse ins Schleudern, das hintere Rad ist schon halb im Strassengraben, ich reisse die Lenkstange herum, komme wieder auf die Strasse, aber ich kann das Gleichgewicht auf einem holprigen Abschnitt nicht mehr halten, rutsche mit den Füssen vom Pedal, es reisst mir den Lenker herum und im hohen Bogen produziere ich einen fürchterlichen Sturz und schlittere mindestens noch 10 m auf dem Hintern. Ich will aufstehen, sacke aber wie ein Stein zusammen. Krieche zum Velo, um festzustellen, ob wenigstens das Rad nichts abbekommen hat. Ein entgegenkommender Automobilist kann noch rechtzeitig anhalten und gibt mir erste Hilfe. Auf der Weiterfahrt kann ich vor Schmerzen kaum auf dem Sattel sitzen, aber als in Unterschächen wieder auf Asphalt gefahren werden kann, geht es besser und so kann ich beschleunigen, um etwas vom verlorenen Terrain aufzuholen.
Die Axenstrasse von Flüelen nach Brunnen ist beeindruckend, ebenso die Fahrt dem Vierwaldstättersee entlang über Vitznau und Weggis nach Luzern. Es ist wiederum eine Monster-Etappe geworden mit 12 Std. Fahrt und 205 km.
Die Jugi hat genügend Platz und ich gehe nachher zur „Stammbeiz“, wo ich Studienkameraden überrasche und die mich stürmisch begrüssen.
Ich lege einen weiteren Ruhetag ein in der Stadt, die ich von meiner Zeit in der im Frühjahr abgeschlossenen Handelsschule noch gut kenne.
Das Finale von Luzern nach Eschenz
Wir schreiben bereits Mittwoch, den 8. September, und die letzte Etappe für die Heimreise steht bevor.
In Cham fahre ich direkt zu meiner „Parade- & Lieblings-Verwandtschaft“. Tante Margrit ist freudig überrascht, mich zu sehen. Gegen Mittag kommen die Kinder aus der Schule und ich kann mit der ganzen Familie essen. Es gibt viel zu erzählen bei meinen Cousinen und Cousins, bevor ich mich am frühen Nachmittag verabschiede.
Ueber Zug gehts zum Hirzel, dem letzten Pass auf meiner Tour. Kurz vor der Passhöhe streikt meine Übersetzung, ich versuche zu flicken, aber erfolglos und kann nur noch im kleinsten Gang ein Stück weiterfahren oder das Velo stossen und zwischendurch aufspringen bis die Abfahrt ansteht.
In rasendem Tempo erreiche ich Wädenswil, wo ich einen Velomechaniker aufsuchen will, diesen aber erst in Rapperswil finde. Es ist schon nach 5 Uhr bis ich wieder losfahren kann für die letzten 75 km nach Hause, die ich mit einem Durchschnitt von 30 km/h zurücklege – also topfit und von Müdigkeit keine Spur.
Nach 1360 km am Ziel – oder 8 Etappen mit durchschnittlich 170 km pro Tag
(als Vergleich: Die Radsport Tour de Suisse führte in den Jahren 2016-2019 über eine Distanz zwischen 1164 und 1197 km)
Kurz vor 8 Uhr steige ich zu Hause vom Rad. Meine Mutter hat mich sehnlichst erwartet und ist froh, ihren Sohn wieder heil bei sich zu haben. Zum Empfang gibts zwar keine Siegerehrung, aber ich bin echt stolz, diese „Tour de Suisse“ mit fünf schweren Alpenpässen erfolgreich und ohne nennenswerte technische und gesundheitliche Probleme gemeistert zu haben.
Die Eindrücke von dieser Tour sind mannigfaltig, sie bot interessante Begegnungen und Fahrten durch unglaublich faszinierende und abwechslungsreiche Landschaften. Dabei wird mir eindrücklich bewusst, in was für einem wunderschönen Land wir wohnen.
Eine Reise, die ich nie vergessen werde.